Interstellarer Menschheitstraum

von Clem Carlos Schermann
Das Licht der Sonne bricht sich in rotorangenen Farben in der Atmosphäre des Gasriesen und färbt die Wohnheiten der im Orbit des Gasriesen schwebenden Basis melancholisch ein. Sie liegen teilweise im Schatten der im Verhältnis zu der Station riesigen Radar- und Funkstation, die den Kontakt zu den Rift-Relays und damit zur Sektor Kontrolle der FSA, der Four Sector Alliance, aufrechterhält.
Wie Bienenwaben sind die Wohneinheiten in zahlreichen kleinen Gruppen aus vier bis acht Wohncontainern in mehreren Etagen übereinander angeordnet. Ein kleiner, ungleichmäßig geformter Mond ist das Skelett, das von ihnen ringförmig umgeben oder in künstlich angelegten Höhlen ausgefüllt wird, um genügend Platz für etwa Zehntausend Bewohner und alle notwendigen Grundversorgungsmodule zu bieten. Über halb durchscheinende, bläuliche Fibroplaströhren sind sie miteinander horizontal und vertikal verbunden. Mehrere zentrale Hauptröhren führen von diesen Wohnblöcken zu den dezentralen Kontrolleinrichtungen für die Grundversorgung sowie zu der am Rand aufgerichteten Hauptstation unterhalb der Radar- und Funkanlage, die zudem für sich genommen zusammen mit den Andockstationen für Raumschiffe in einem einzelnen Dorn aus der Basis weit herausragt.
Durch diese Röhren, die ihrerseits mit untergeordneten und parallel verlaufenden Fußgänger- und Infrastrukturleitungen ein feines Logistiknetz bilden, dienen automatisierte Monomagnetbahnen zur allgemeinen Beförderung. Nur wenige Angestellte sind von dem Konzern Interstellar-Metalle mit eigenen Repulsorfahrzeugen ausgestattet, um den Energiebedarf einerseits und die Emissionen andererseits so gering wie nur möglich zu halten.
Mit einem unverkennbaren Summen hält ein neutral gehaltenes Repulsorfahrzeug vor der Wohnheit CE-36 in einem äußeren Ring. Nachdem die Flügeltüren des Fahrzeugs drehend und leise zischend geöffnet worden sind, steigen zwei menschliche Personen aus. Sie tragen schlichte und funktionelle Anzüge. Für jeden von ihnen ist ein einfaches Namensschild mit dem Firmenlogo und ihrem jeweiligen Namen seitlich an den Ärmeln unterhalb der Schulter aufgenäht. Darunter steht die Bezeichnung ihrer Abteilung: Interstellarer Menschheitstraum.

Als sich Interstellar-Metalle 2863 eigenständig auf den interstellaren Warenverkehr weiterentwickelt hatte und für sich nicht nur den Handel, sondern auch die Erschließung, Förderung und Verarbeitung von Mineralen und Erzen im interstellaren Raum entdeckt hatte, wurde nach den ersten schweren Rückschlägen und nach zahlreicher Kritik an tragischen Unfällen die Abteilung Interstellarer Menschheitstraum gegründet. Die Angestellten dieser Abteilung wurden beauftragt, Angehörigen verschollener Mitarbeiter das Bedauern und Beileid des Konzerns mitzuteilen. Seit es die Abteilung gibt, wurde nie wieder ein verschollener Mitarbeiter gesichtet. Es war bei den lebensfeindlichen Bedingungen des Weltraums klar, dass verschollene Mitarbeiter auch verstorbene waren. Die Räume sind für umfangreiche Suchen zu riesig; zu viele Gefahren sind sogar für die erfahreneren Völker des Orion-Arms noch immer unbekannt; und schließlich werden nahezu alle Projekte im Weltraum mit einem sehr knappen Budget geplant.

Andreji Kiriliow und Matsuke Beniko sind bereits eingespielt. Langsam nähern sie sich der Tür, was ein automatisches Signal innerhalb der Wohneinheit auslöst. Sie warten nur kurz und straffen dabei ihre Anzüge. Beniko hält ein in ein anspruchsvoll gefaltetes dunkelgraues Papier gewickeltes kleines Geschenk in ihren Händen. Die Tür zu dem Appartement öffnet sich mit einem leisen Wusch, und ein mittelgroßer, charismatischer Mann wirft ihnen mit dem Licht der Wohnung im Rücken einen langen und dunklen Schatten entgegen. “Ja, Bitte?” Seine Stimme ist hell und klingt angenehm neutral.
“Hr. Rumbanza Kumbeki?” Beniko spricht mit klarer, förmlicher Stimme.
“Ja?”
“Interstellar-Minerale teilt ihnen das tiefe Bedauern mit, dass wir seit …”
“Bedauern? Was …?”
” … über 36 Stunden keinen Funkkontakt mehr zu …”
“Bedauern? Funkkontakt?”
” … zu den Minenarbeitern des Fördermoduls Delphi Drei haben. Alle Versuche, mit dem Modul in Kontakt zu treten oder es anzupeilen und ausfindig zu machen …”
“Was ist los? Fördermodul? Peilen?”
” … schlugen bis jetzt fehl. Entsprechend der Konzernvereinbarungen und des Zusatzprotokolls vom 30. Mai 2947 müssen wir ihnen leider mitteilen, …”
“Sprechen sie mit mir wie mit einem Menschen! Was ist denn los?”
” … dass die Belegschaft auf dem Fördermodul verschollen ist. Ihre Frau ist Teil dieser Besatzung, Sir.” Beniko beendet ihren Satz bestimmt und hält dem entsetzten Blick von Rumbanza stand. Seine Lippen beben, so dass das Weiß seiner Zähne gelegentlich gespenstisch aufblitzt. Sachte schiebt sie ihm das Geschenk entgegen und deutet mit einem kurzen Blick nach unten darauf. Zögernd greift er danach. Als er es in Händen hält, lässt Beniko umgehend los. Andreji spricht leise: “Es tut uns Leid, Herr Kumbeki. Interstellar-Minerale freut sich mit ihnen, dass ihre Frau Teil des interstellaren Menschheitstraums geworden ist.”
Die Worte schlagen bei dem Mann wie Kometen ein und lassen ihn für einen Augenblick nichts wahrnehmen; alles wird kurz weiß und konturlos. Als sich das Flackern in seinen Augen etwas auflöst, sieht er, wie die zwei Menschen in ein Repulsorfahrzeug einsteigen. Ohne ihn ein letztes Mal anzusehen, schließen sie die Flügeltüren, und sie schweben in dem Fahrzeug surrend durch die Röhre davon.

Das Licht in dem Raum ist gedimmt. Über das 3-D Holo werden passend zu der abgespielten dumpfen und vibrierenden Musik bizarre Muster in den Raum projiziert, die durch ihre unterschiedlichen Farben dem Zimmer etwas mysteriöses und gespenstisches geben. Über einem runden Tisch ruht der gebeugte Körper von Rubanza. In einer Hand liegt ein Streifen für Pillen, der leer ausgedrückt ist; die andere Hand lehnt reglos an einem umgestoßenen Glas, dessen Inhalt sich über den Tisch ergossen hat. Auf dem Pillen-Streifen steht Dripin 4.000, der Name eines Beruhigungsmittels.
Dann zuckt die Hand mit dem Streifen etwas. Langsam, leicht bebend richtet sich Rubanza auf. Mit glasigen Augen sieht er sich um. Nur langsam begreift er, wo er sich befindet. Dann bleiben seine Augen nf einem kleinen Objekt neben ihm auf der Sitzbank hängen. Rätselhaft unbestimmt betrachtet er es über mehrere Minuten. Dann greift er langsam danach. Mit den Fingern tastet er das elegante und teure Papier ab. Er schüttelt das Objekt und befühlt es. Trotz der kleinen Größe vermittelt es ein solides und schweres Gefühl in der Hand.
Schließlich findet er eine geeignete Stelle am Papier, um es zu zerreißen. Nach nur wenigen Griffen befreit er den kleinen Gegenstand. Aus einem schwarzen, kunstvoll gegossenen Sockel mit einer goldfarbenen Plakette ragt ein einfaches, glasklares Prisma, in welches mit einem Laser das Firmenlogo von Interstellar-Minerale eingraviert worden ist – ein I und dahinter ein M. Auf der goldenen Plakette ist der Name seiner Frau eingeprägt: Sandra Kumbeki – in Erfüllung des interstellaren Menschheitstraums.
Sanft tastet er mit seinen Fingern über das kleine Schild. Sein Blick verfolgt die feinen Linien der Einprägung des Namens. Dabei werden seine Augen gläsern, bis sich die erste Träne löst und über die Wange rollt. Stoßartig schnauft er vor Kummer und hält nun fester an dem kleinen Monolithen fest. Dabei schaut er unruhig um sich, und seine Augen haften nun an einem Laufbildspieler, als es Sandra und ihn lachend beim Picknicken zeigt. Das Bild wechselt, und er sieht sie, wie sie glücklich in ein elegantes Kostüm gekleidet die Ernennungsurkunde für ihre Anstellung bei Interstellar-Minerale hochhält. Wieder wechselt das Bild und zeigt ihr Profil gegen die aufgehende Sonne auf New Sidney.
Mit einem wütenden Aufschrei springt Rubanza auf und schleudert das Geschenk durch den Wohnbereich. es durchschlägt die Holo-Projektion, die auf diese Irritation verspielt mit Blasen und Komplementärfarben reagiert. Durch diese Reaktionen und die Betäubung seiner Sinne und Gefühlswelt gerät Rubanza immer stärker in Rage und schlägt wild um sich.

„Aufwachen!“
Qualvolle Schmerzen und Betäubung lähmen jede Regung und Bereitschaft, auf die fern klingende und forsche Stimme zu reagieren.
„Aufwachen!“
Alles um ihn herum ist grau und formlos.
„Sind sie sicher, Doc, dass ihre Mittel was bringen?“
„Sicher bin ich sicher. Erwarten sie keine Wunder, Chief. Auch die beste Medizin braucht manchmal etwas Zeit, um sich durchzusetzen. Und sein Körper steht unter starkem Einfluss von …“
„Jajaja. Schon gut. Kümmern sie sich um ihn? Oder muss ich unbedingt …“
„Gehen sie! Ich denke, ich habe hier alles im Griff.“
Die Stimmen sind fremd und gedämpft, und sie sind scheinbar sehr weit entfernt. Als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben und er etwas wacher geworden ist, sieht er sich in einer kleinen Zelle auf einer Liege. Die Tür zu der Zelle ist geöffnet. Und neben dem Durchgang sitzt auf einem Schemel ein Mann. Er ist von kleiner Statur, hat weiße Haut sowie dunkle Haare und Augen. Er wirkt etwas kräftig, und seine aufgetragene Einheitsuniform für den militärisch-medizinischen Dienst der FSA ist erkennbar zu klein geworden. Rubanza murmelt irritiert und müde: „Wo bin ich?“
„Herr Kumbeki. Sie sind in der Sicherheits- und Ordnungseinheit für ihren Wohnring. Naja, sie waren eher. Sie sind entlassen. Interstellar-Minerale hat die entstandenen Kosten von ihrer Abfindung beglichen.“
„Sicherheits- … ? Abfindung … ? Was ist passiert?“
„Herr Kumbeki. Ich schlage vor, wir besprechen alles, wenn ich sie bei der Räumung von Einheit CE-36 begleite.“
„Räumung? Ich verstehe nicht … ?“

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